Neues zu § 574 BGB – „Nix genaues weiß man nicht“

Eigenbedarfskündigung und Sozialklausel – BGH (Urteile vom 22.05.2019, VIII ZR 180/18 und VIII ZR 167/17) zieht Linien für die von den Gerichten vorzunehmende Abwägung im Rahmen dieses Spannungsfeldes.

Was war geschehen?Ein Klassiker in der anwaltlichen Praxis: In einem Fall hatte ein Familienvater einer über 80 Jahre alten Mieterin gekündigt, weil er für seine junge Familie selbst mehr Platz braucht. Die alte Dame hat sich auf einen Härtefall im Sinne von § 574 BGB berufen, da sie bereits seit 45 Jahren in der Wohnung lebt und bei ihr eine Demenz attestiert wurde. Im 2. Fall kündigten die beiden Vermieter das Mietverhältnis mit der Begründung, einer der Vermieter wolle mit ihrem Lebensgefährten in die Doppelhaushälfte einziehen, um ihre pflegebedürftige Mutter, die in der Nähe des Anwesens wohne, besser unterstützen zu können. Die Mieter wenden sich mit diversen attestierten Erkrankungen (einer mit der Attestierung von Parkinson, Depression etc.) im Rahmen des Härteeinwands gegen die Kündigung.
Die Vorinstanzen hatten im 1. Fall die Eigenbedarfskündigung für wirksam erachtet, das Berufungsgericht hat die Klage jedoch abgewiesen, da ein Härtefall im Sinne von § 574 Abs. 1 S. 1 BGB vorläge und hat bestimmt, dass das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde (§ 574 Buchst. a Abs. 2 S. 2 BGB). Begründet wurde dies mit dem hohen Alter der Dame, der attestierten Demenzerkrankung, der mit der langen Mietdauer einhergehenden Verwurzelung sowie grundsätzlicher Schwierigkeiten in Berlin bezahlbaren Ersatzwohnraum zu finden. Dahinter habe das Interesse des kündigenden Vermieters zurückzutreten, da der Eigenbedarf bereits bei Erwerb der Wohnung absehbar war und der Vermieter mit dem Einwand von Härtegründen habe rechnen müssen.
Im 2. Fall hatten die Vorinstanzen ebenfalls die Eigenbedarfskündigung für gegeben erachtet. Im Rahmen der Abwägung gemäß § 574 Abs. 1 S. 1 BGB sah das Berufungsgericht die Fortsetzung des Mietverhältnisses als nicht begründet an, da sich aus den ärztlichen Attesten nicht ergeben würde, dass der Umzug für die Mieter aus medizinischer oder psychologischer Sicht unzumutbar sei und insbesondere zu einer drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigung oder Lebensgefahr führe.

Wer gewinnt bei der Abwägung widerstreitender Rechtsgüter? Das ist im Vorfeld kaum sicher abzuschätzen, es wird jeweils eine Einzelfallentscheidung geben. Der BGH hält bereits seit dem Jahr 2017 insbesondere die Instanzgerichte dazu an, keine oberflächliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und die Interessen beider Seiten im Rahmen der Prüfung des § 574 Abs. 1 S. 1 BGB besonders sorgfältig abzuwägen. Auf beiden Seiten seien Grund Rechtsgüter von staatlicher Seite zu berücksichtigen. Für den Vermieter spreche das Recht auf Eigentum, für den Mieter hingegen das Recht auf Gesundheit. Der Senat versucht, den Instanzrichtern eine Leitlinie an die Hand zu geben, anhand deren sie Fälle dieser Art lösen soll. Legt etwa ein Mieter ein ärztliches Attest vor, aus dem sich die Gefahr einer Gesundheitsverschlechterung bei einem Umzug ergibt, muss das Gericht im Regelfall ein gerichtliches Sachverständigengutachten zur Konkretisierung einholen. In dem ersten Fall muss also über ein Sachverständigengutachten geklärt werden, ob der Gesundheitszustand der älteren Dame tatsächlich einen Umzug nicht mehr zulässt. Gleiches gilt im 2. entschiedenen Fall, auch hier sind über ein Gutachten der Gesundheitszustand des Mieters und die Auswirkungen eines Umzuges auf seinen Gesundheitszustand zu prüfen.

Und wem hilft das, Mieter oder Vermieter? Sicherlich nicht dem anwaltlichen Praktiker in der tagtäglichen Beratung. Die Instanzgerichte werden angehalten, eine im Einzelfall gerechte Entscheidung zu finden. Divergierende Grundrechte sind also gegeneinander abzuwägen, das Ergebnis ist kaum zu prognostizieren, da in der Beratung des Vermieters das gesundheitliche Risiko des Mieters nicht bekannt und erst recht nicht in der notwendigen Klarheit attestiert ist. Klar ist auf jeden Fall, dass die Mieter bei Formulierung des Härteeinwands gegenüber dem Vermieter und im gerichtlichen Verfahren insoweit konkret vortragen müssen, klar ist auch, dass die teilweise dubiosen vorgelegten einseitigen Atteste überprüft werden und Gefälligkeitsatteste eventuell auch rechtliche Konsequenzen haben dürften.
Auch die Beratung durch den unterstützenden Anwalt wird auf beiden Seiten intensiver geführt werden müssen.

Das Rechtsgebiet wird verantwortlich in unserer Kanzlei von Herrn Rechtsanwalt Ralf Schweigerer, Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht, bearbeitet, sprechen Sie ihn gerne auf die Problematik an.