Beinhaltet die Annahme eines Vermächtnisses einen stillschweigenden Verzicht auf einen (Zusatz-)Pflichtteil?

Anmerkung zu OLG Celle, Urteil vom 29.07.2024, Az. 6 U 51/23

Was war geschehen?

Die enterbten Kinder des Erblassers hatten ein ausgesetztes Vermächtnis angenommen und verlangten anschließend die Wertermittlung von Nachlassgegenständen, um ihren Pflichtteilsergänzungsanspruch (Zusatzpflichtteil) geltend zu machen. Problematisch war aber, ob die Annahme des Vermächtnisses durch die enterbten Kinder des Erblassers als stillschweigender Verzicht auf den Zusatzpflichtteil gewertet werden konnte. Das Landgericht hatte entschieden, dass in der bloßen Annahme des Vermächtnisses ein solcher Verzicht vorliegt, ohne dass die Kinder ausdrücklich auf ihren Anspruch verzichtet hatten.

Grundsätze/Gesetzeslage:

§ 2307 BGB regelt das Verhältnis zwischen Vermächtnis und Pflichtteil für pflichtteilsberechtigte Erben. Grundsätzlich hat ein Pflichtteilsberechtigter das Recht, seinen Pflichtteil zu verlangen, wenn er ein Vermächtnis ausschlägt. Nimmt er das Vermächtnis an, entfällt sein Anspruch auf den Pflichtteil insoweit, wie der Wert des Vermächtnisses den Pflichtteil abdeckt. Reicht der Wert des Vermächtnisses nicht aus, bleibt ihm ein Anspruch auf den sogenannten Zusatzpflichtteil, um die Differenz zu seinem Pflichtteil auszugleichen. Ein Verzicht auf den Zusatzpflichtteil ist grundsätzlich möglich und bedarf auch keiner besonderen Form. Das bedeutet, dass ein Verzicht auf den Zusatzpflichtteil sowohl schriftlich als auch mündlich oder stillschweigend erklärt werden kann.

Die Entscheidung:

Das OLG Celle entschieden, dass ein stillschweigender Verzicht auf den Zusatzpflichtteil nach § 2307 Abs. 1 S. 2 BGB strengen Anforderungen unterliegt und nicht allein aus der Annahme eines Vermächtnisses abgeleitet werden kann.  Es stellt klar, dass der Pflichtteilsberechtigte nicht verpflichtet ist, bei Annahme des Vermächtnisses ausdrücklich zu erklären, dass er sich den Zusatzpflichtteil vorbehält. Ein bloßer zeitlicher Abstand zwischen der Annahme eines Vermächtnisses und der Geltendmachung des Zusatzpflichtteils reicht nicht aus, um einen Verzicht anzunehmen. Bei der Prüfung eines Verzichts müssen sämtliche Begleitumstände sorgfältig berücksichtigt werden und ein solcher Verzicht darf nur in Ausnahmefällen angenommen werden.

Kommentar:

Das Urteil stärkt den Schutz der Pflichtteilsberechtigten und verhindert, dass diese ungewollt oder stillschweigend auf ihren Anspruch verzichten, wenn sie ein Vermächtnis annehmen. Es schafft mehr Rechtssicherheit in Erbfällen, in denen Vermächtnisse und Pflichtteilsansprüche nebeneinander bestehen und wird relevant, wenn es darum geht, Ansprüche auf einen Zusatzpflichtteil nach dem Erhalt eines Vermächtnisses geltend zu machen. Vorsorglich sollte aber bei Annahme eines Vermächtnisses ausdrücklich erklärt werden, dass die Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen vorbehalten bleibt.

Das Rechtsgebiet „Erbrecht“ wird in unserer Kanzlei verantwortlich von Herrn Rechtsanwalt Dr. Klaus Martin Klassen, Fachanwalt für Erbrecht sowie Bank- und Kapitalmarktrecht, bearbeitet.