„Rückschnitt ohne Verluste – auch der Baum ist gefährdet“ – Anmerkung zu BGH vom 11.06.2021 V ZR 234/19

Was war geschehen? Schon Friedrich Rückert hatte erkannt: „Erst nach dem Nachbar schaue, sodann das Haus dir baue! Wenn der Nachbar ist ein Schuft, so baust du dir eine Totengruft“. In diesem Fall des BGH ging es aber nicht um den Tod eines der Nachbarn, sondern um den möglicherweise drohenden Tod einer Schwarzkiefer. Diese stand seit ca. 40 Jahren unmittelbar an der gemeinsamen Grenze und hatte eine stattliche Höhe von 15 m erreicht. Ihre Äste, von denen Nadeln und Zapfen herabfielen, ragen seit mindestens 20 Jahren auf das Grundstück des Beklagten hinüber. Der Beklagte hatte nach vergeblicher Fristsetzung die überhängenden Zweige selbst abgeschnitten und der Kläger ging nunmehr im Wege einer Unterlassungsklage gegen den Beklagten mit dem Ziel vor, dieser solle zukünftig unterlassen, überhängende Äste oberhalb von 5 m Höhe abzuschneiden.

Die Problematik: In der Presselandschaft war die Entscheidung oft mit der Überschrift „Nachbar darf zurückschneiden“ versehen worden. Das ist aber nichts Besonderes und nichts Neues, dies ergibt sich schon immer unter den Voraussetzungen des § 910 BGB aus dem Gesetz. Der auf Unterlassung klagenden Nachbar hatte allerdings behauptet, bei Beseitigung des Überhangs drohe das Absterben des Baumes oder der Verlust seiner Standfestigkeit. Die entscheidenden Ausführungen im Urteil des BGH liegen daher in den Hinweisen zu dieser Problemstellung, denn bislang war umstritten, ob das beschriebene Risiko zur Unzumutbarkeit der Entfernung des Überhangs führe.

Die Entscheidung: Der BGH positioniert sich klar und eindeutig:

Das Selbsthilferecht steht einem Grundstückseigentümer bei jeder objektiven Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung zu.

Das Selbsthilferecht nach § 910 Abs. 1 BGB, welches ja auch der Verjährung nicht unterliegt, ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil durch die Beseitigung des Überhangs das Absterben des       Baumes oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht. Würde man dies als Voraussetzung in den Gesetzestext hineinlesen wollen, wäre den Vorstellungen des Gesetzgebers, der dem Nachbarn ein einfaches Selbsthilferecht an die Hand geben wollte, zuwidergelaufen. Jeder Nachbar müsste zuvor ein Sachverständigengutachten einholen lassen.

Unberührt bleiben allerdings öffentlich-rechtliche Fragen, insbesondere hat jeder Nachbar naturschutzrechtliche Regelungen und vor allem auch die in seiner Kommune geltenden wirksamen Baumschutzsatzungen zu beachten.

Kommentar: Eine klare Aussage, die den gesetzgeberischen Wunsch, den Bürgern eine einfache und klare Regelung an die Hand zu geben, aufgreift. Eine sorgfältige Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 910 Abs. 1 vorliegen oder ob möglicherweise keine Beeinträchtigungen des Grundstücks gegeben sind und ob schließlich öffentlich-rechtlichen Vorgaben zu beachten sind, obliegt aber weiterhin dem „abschneidenden“ Nachbarn.
Das Rechtsgebiet wird verantwortlich in unserer Kanzlei von Herrn Rechtsanwalt Ralf Schweigerer, Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht bearbeitet, sprechen Sie ihn gerne auf die Problematik an.